Sechstes Kapitel
Knastalltag
Bis auf zwei weitere Verhöre war die U-Haft recht langweilig und wir wurden erfindungsreich.
Da Spiele zum Zeitvertreib im Verwahrraum verboten waren, man war ja schließlich in Haft und nicht im Urlaub, mussten wir uns natürlich selbst etwas ausdenken und so drehten wir die Tischplatte, bei der die Schrauben schon etwas wackelig waren, einfach um und bemalten sie mit Bleistift schön regelmäßig und gleichmäßig mit Kästchen. Somit hatten wir die Grundlage für ein Brettspiel.
Die Figuren bastelten wir aus Brot, von dem immer genügend zur Verfügung war. Kräftig durchkauen, ein Figürchen nach eigenem Geschmack formen und auf dem Fensterbrett trocknen lassen. Je nach Talent kamen da recht lustige Ergebnisse bei heraus. Da die Figuren nur eine begrenzte Haltbarkeit hatten, musste natürlich dafür gesorgt werden, dass immer genug da waren, dadurch sah unser Fensterbrett immer aus, wie ein ausgekippter Ü-Ei-Setzkasten. Es war natürlich zu hören, wenn jemand kam. Der Flur hatte einen Steinfußboden und die Schuhe der Wärter hatten harte Hacken. Bei nahender Gefahr drehten wir schnell die Tischplatte wieder um und waren plötzlich in Gespräche vertieft.
Erfindungsreich waren wir auch, wenn es darum ging, zu rauchen. Tabak war absolute Mangelware. Mit den Aluminiummessern, die wir mittags in der Zelle hatten, schabten wir von unseren Stühlen schnell kleine Späne ab und rollten diese in Zeitungspapier, welches ausreichend zur Verfügung stand. Schließlich bekamen wir jeden Tag das „Neue Deutschland“ hereingereicht, um uns politisch auf dem neuesten Stand zu halten. Fertig waren die Zigaretten.
An den Sitzflächen der Stühle war deutlich zu erkennen, dass wir nicht die ersten waren, die auf diese Idee kamen. Irgendwas musste man ja rauchen und Hauptsache, es qualmte! Zahnpasta ging auch, einfach rein ins Zeitungspapier, auf der Fensterbank gründlich austrocknen lassen und fertig war eine Menthol-Zigarette. Für etwas geschmackliche Abwechslung sorgte auch die Füllung der Matratzen. Hat zwar furchtbar geschmeckt, aber wenn man Raucher ist, gibt man sich auch mit weniger zufrieden.
Sehr unangenehm, aber irgendwie gewöhnt man sich an alles, war die Tatsache, dass die Toilette in der Zelle war. Man war zwar, wenn man drauf saß, bis auf Brusthöhe durch eine hellgrün lackierte Holzwand vor den Blicken der anderen geschützt und die Zellengenossen schauten meist diskret zur Seite, aber jegliches „Geschäft“ konnte man natürlich nicht vor den Mitinhaftierten verbergen und große Geschäfte sind selten leise. Ständig zogen abenteuerliche Düfte durch unser Stübchen. Die regelmäßige Fütterung mit Schwarzbrot und Tee hatte bei jedem der Mitinsassen einen hervorragenden Stoffwechsel zur Folge. Aber man stumpft irgendwann ab und gibt sich seinen körperlichen Bedürfnissen hin. Und wir waren ja nur zu viert. Es gab auch Stuben mir größerer Belegung.
Die Namen, oder Spitznamen, von zwei Wärtern haben sich bei mir bis heute eingeprägt. Einer der beiden wurde „Texas“ genannt, denn er war der angeblich schnellste Schließer von Rummelsburg.
Er war gefühlte zwei Meter groß, hatte eine rotblonde Borstelfrisur und einen stacheligen Schnauzer in gleicher Farbe. Seine Besonderheit bestand darin, nach dem Schließen in Cowboymanier den Schlüsselbund wie einen Revolver noch einmal um den Zeigefinger kreisen zu lassen und dann mit einem kurzen Ruck am Gürtel zu befestigen. Er war zwar ein rhetorischer Grobian, das erwartet man auch von Wärtern, aber er behandelte wenigstens jeden gleich. Egal, warum man drin war. Der Zweite wurde nur immer Pitti genannt. Er ähnelte aber auch sehr der beliebten Figur „Pittiplatsch“ aus dem DDR-Kinderfernsehen. Wir machten uns ständig einen Spaß daraus, wenn wir wussten, dass er nahte, über den Flur mit Falsettstimme in Pittiplatschmanier zu rufen:
„Ach du meine Nase!“
Kurze Anmerkung; das kennen sicherlich nur Ossis. Er war zu offensichtlich von der Natur benachteiligt und hatte sicher schon in der Schule nicht viel zu lachen. Klein, dicklich, glatzköpfig mit einem Haarbürzel auf der Stirn, immer hektische, rote Flecken im Gesicht und immer außer Atem. Wenn man solchen Menschen einen verantwortungsvollen Posten gibt, bei dem sie Macht über andere Leute haben und nach Lust und Laune herumkommandieren können, ist das meist eine gefährliche Kombination. So war es dann auch. Willkürlich zog er Inhaftierte zu Strafarbeiten heran. Er war auch der einzige Wärter, der gerne und oft auf Socken über die Flure lief, um jemanden bei etwas Verbotenem zu erwischen. Am Meisten hatte er es auf Politische abgesehen, da diese ja nach seinem Rechtsverständnis die schlimmsten Straftäter waren. Was ist dagegen schon schwere Körperverletzung, Kindesmissbrauch, Raub oder Totschlag? Lieber zehn Kriminelle, als einer wegen RF.
Jeden Abend um die gleiche Zeit gab es ein Gepolter auf den Gängen. Riegel auf, Türen werden aufgerissen. Der Stubenälteste musste Meldung machen, dass wir alle noch vollzählig waren. Ja, wo sollten wir denn hin? Nachteinschluss! Tür fliegt rummsend ins Schloss, Riegel zu.
Licht aus.
Ich versuchte dann immer, an etwas Schönes zu denken. An etwas, wofür es an diesem Ort keine Worte gab. Ich lag auf dem Rücken und da waren sie wieder, meine nächtlichen Begleiter. Erst rechts, dann links. Glitzernd, leise und heiß. Ich hatte hier gelernt, geräuschlos zu weinen. Heiß liefen meine salzigen Freunde mir die Wangen hinunter. Wenigstens etwas, worauf man sich verlassen konnte. Der einzige private Luxus, den man sich hier leisten konnte und was einem niemand nehmen konnte.
Es sollte kein anderer mitbekommen. War es bei den anderen ebenso? Darüber redete man nicht und es wurde auch nicht gefragt. Ungeschriebenes Gesetz. Dieses andere, dieses normale Leben war inzwischen so weit weg. Wie lange würde dieser Horror hier noch dauern? Das hier war alles so unreal und durfte eigentlich nicht wahr sein. Ein hoch auf den friedliebenden Arbeiter- und Bauernstaat.
Nach einiger Zeit wurde Thomas nach seiner Verurteilung in den Strafvollzug verlegt und wir bekamen einen Neuen auf die Zelle. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, denn wir bekamen nach kurzer Zeit heraus, es war ein Kinderschänder! Im Nachhinein muss ich sagen, dass der neunzehnjährige Bengel eigentlich nicht in den Knast gehörte, sondern für die restliche Zeit seines Lebens hinter geschlossene, psychiatrische Mauern. Er sah die Schwere seiner Tat sehr gelassen und wollte uns sogar davon erzählen! „Aber ich hab doch nur….“ Hier möchte ich nicht ins Detail gehen, es sollte sich nun jeder selbst seinen Reim drauf machen. Wir gingen nicht gerade zärtlich mit ihm um und auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre später, bin ich immer noch sehr erschrocken über mich selbst. Wie sehr kann man sich in jungem Alter, angestachelt und aufgeheizt durch die Gruppendynamik, zur Selbstjustiz verleiten lassen. Heute schäme ich mich dafür, denn wie gesagt, der Junge war psychisch krank und gehörte nicht hierher. Er war auch nicht lange auf unserer Zelle und wir erfuhren einige Zeit später, dass er nach, seiner Verlegung in eine andere Zelle, eine Aluminiumgabel aß, um in den Sanibereich zu kommen, wo er vor Repressalien anderer Mitgefangener besser geschützt war.
In der U-Haft gab es auch eine Bibliothek, dadurch waren ständig Bücher im Umlauf. Ich las schon immer sehr gerne und vertrieb mir damit die langweilige Zeit des Wartens. Die Auswahl war allerdings sehr gewöhnungsbedürftig. Nur politisches Zeugs, das ich in Freiheit niemals in die Hand genommen hätte. Erschwerend für den Lesegenuss kam noch hinzu, dass einige Mithäftlinge die Bücher mit Fluchtplänen und allerlei Schwachsinn dekoriert und oftmals auch die Seitenanzahl arg dezimiert hatten. Aber Hauptsache, die Zeit verging, so wurde alles gelesen.
Siebentes Kapitel
Im Namen des Volkes!
Nach ca. vierwöchigem Warten wurde ich wieder mal aus der Zelle geholt und mir wurde auf dem Gefängnisflur meine Anklageschrift zur Kenntnisnahme gezeigt. Normalerweise bekommt diese jeder ausgehändigt, aber bei Häftlingen mit politischem Hintergrund machte man da großzügig eine Ausnahme. Einmal kurz in Anwesenheit eines Wärters durchlesen, unterschreiben und wieder abgeben. Wenige Tage später wurde ich meinem Anwalt vorgestellt. Meine Eltern, die ich anschreiben durfte, hatten sich für mich darum gekümmert, dass ich Rechtsbeistand von Herrn Dr. W. Vogel bekam. Dieser war unter den politischen Häftlingen sehr prominent und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er schon einigen Republikflüchtlingen während des Gefängnisaufenthaltes den Freikauf in den Westen ermöglicht hätte.
Es war natürlich nicht Dr. Vogel selbst, der mich vertrat, sondern einer seiner Angestellten. Als ich beim ersten Gespräch mit ihm an seinem Revers diese bekannte kleine ovale Anstecknadel mit den beiden abgeschnittenen Händen sah, schwand mir gleich jeglicher Mut. Parteigenossen konnten bei solch einem Verbrechen, welches mir angelastet war, ihren Job nicht mit voller Überzeugung erfüllen. Es war letztendlich auch nur amtliches Geschwafel, wie ich mich vor Gericht zu verhalten hätte, etc.
In einer kleinen Minna wurde ich zum Gerichtsgebäude nach Berlin-Friedrichshain gekarrt. Wie immer die Warnung, dass bei einem Fluchtversuch sofort von der Waffe gebraucht gemacht würde. Was für ein Schwachsinn. Wo sollte ich denn hin? Wegrennen, mit der eisernen Acht an den Handgelenken? Ich war aufgeregt, wie noch nie. Würde ich doch in Kürze das erste Mal in meinem Leben vor einem Gericht stehen. Die Verhandlung selber war eine Farce und irgendwie lief alles ab, wie in einem Film. Außer meinen Eltern, die dabei sein durften, sah ich nur in fremde Gesichter. Laut Aussagen von Busfahrer-Kollegen der BVB, die als Zeugen geladen waren, war ich ein Mitarbeiter, dessen Arbeit als durchweg schlecht zu bewerten war.
Warum ließen sie mich dann einen Linienbus lenken?
Was war mit den Sonderprämien für Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, die ich bekam?
Ich bewertete diesen ganzen Mist nicht weiter, es war doch sowieso alles nur kommunistisches, vorprogrammiertes Geplänkel. Zum Selbstschutz baute ich eine Nebelwand um mich herum auf und hoffte, dass diese kuriose Veranstaltung bald ein Ende hatte. Aufgerüttelt wurde ich erst, als man mir die schwere meiner Tat vor Augen führte und mir zusätzlich zu meinem politischen Verbrechen noch Devisenschmuggel zur Last legte. Devisenschmuggel!
Seit Jahren schon hatte ich in meiner Geldbörse ein fünf- Pfennig- Stück „Westgeld“ als Glücksbringer.
Das sollte mir nun zum Verhängnis werden! Dieser kleine Talisman verlängerte meine angedachte Haftstrafe von sechs auf neun Monate. Mein Entlassungstag war somit offiziell der 21. März 1990.
Es war bis dahin allgemein bekannt, dass bis zu der Zeit die Haftstrafen für RF(Republikflucht) noch bei ca. eineinhalb Jahren lagen, aber durch die plötzlichen Massenfluchten im Jahr 1989 hatte man die Strafen deutlich heruntergesetzt. Wahrscheinlich, um die Gefängnisse vor Überfüllung zu bewahren. Es ist wohl müßig, zu erwähnen, dass ich mit meinen Eltern am Verhandlungstag keinen Körperkontakt haben durfte. So erzieht man junge DDR – Bürger zur Staatstreue.
Fortsetzung folgt ….